Leseprobe „Berliner Böse Weiber“

Sophie Charlotte Elisabeth Ursinus

Berlin-Spandau, um 1800


Portrait der jungen Sophie Charlotte Elisabeth Ursinus, gemeinfrei

Wer um 1830 herum in aufregender und anregender Gesellschaft seinen Kaffee genießen wollte, ging dafür ins Café Kranzler. Ursprünglich war das eine kleine, aber sehr feine Konditorei an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, eröffnet 1825. In den 30er Jahren wurde sie erheblich ausgebaut und erlangte recht bald Berühmtheit. Die dazugehörige Terrasse mitten auf der Straße, genannt „Rampe“, die der Baubehörde immer wieder ein Dorn im Auge war, stand sogar unter königlichem Schutz. Tische auf der Straße! In Deutschland! Das gab es so nur in Berlin.

Doch das heute gern und zahlreich von Touristen besuchte Café Kranzler in Charlottenburg am Kurfürstendamm war eigentlich eine Filiale des Originals. Beide Häuser wurden bei der Bombardierung Berlins zerstört – das im Ostteil der Stadt gelegene Original wurde zwar in der Nähe der ursprünglichen Adresse wiedereröffnet, verlor aber im Laufe der Geschichte an Bedeutung und verschwand schließlich ganz.

Die Filiale aber – im Westteil der Stadt – wurde bald wieder Treffpunkt von Gutbetuchten, Urberlinern und Künstlern. 1958 entstand das von Hanns Dustmann entworfene zweigeschossige Gebäude mit seinem charakteristischen runden Aufbau und der rot-weiß-gestreiften Markise. Spätestens jetzt war das Kranzler ein Wahrzeichen der Stadt – oder wie Udo Lindenberg sang:

In fünfzehn Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm.

Sie lassen ihre Panzer im Parkhaus stehn

und wollen im Café Kranzler die Sahnetörtchen sehn.

Udo Lindenberg, Russen

Doch auch an Wahrzeichen geht die moderne Zeit mit ihren wirtschaftlichen Veränderungen nicht spurlos vorbei. Nach einigen Schließungen, Wiedereröffnungen und wechselnden Besitzern ist das Kranzler heute im unteren Teil ein Ladengeschäft eines Textilhandels, der runde Aufbau wird von der Berliner Kaffeerösterei „The Barn“ weiter als Café betrieben.

Wer dagegen 1834 im damaligen Glatz, heute Kłodzko in Polen, zur besseren Gesellschaft gehörte und ein außerordentliches und auch ein wenig unheimliches Kaffeekränzchen erleben wollte, der besuchte die Geheimrätin Ursinus. Sie war bereits über siebzig Jahre alt und ihre einstige Anmut dahin. Das Besondere an ihr waren auf den ersten Blick ihre Eitelkeit und ihr recht anständiges Vermögen. An sich wäre sie nur eine von vielen älteren Damen der Gesellschaft gewesen, verwitwet und gelangweilt – wäre sie nicht eben auch eine überführte Giftmischerin gewesen.

Ach, der wohlige Schauer, der die Damen durchfuhr, wenn sie die feinen Zuckerkristalle auf ihren Kuchen erblickten, und das vorsichtige Nippen am Kaffee, der in dem feinen Porzellan gar verlockend duftete … schmeckte er nicht ein wenig seltsam?

„Denken Sie sich nichts, es ist kein Arsen“, rief die Geheimrätin in solchen Momenten gern aus und lachte herzlich.

Sophie Charlotte Elisabeth Ursinus wurde 1760 als Tochter des in Ungnade gefallen österreichischen Legationssekretärs (Diplomaten) Baron von Weingarten in Stendal geboren. Als sie etwa zwölf Jahre alt war, wurde sie, wie zur damaligen Zeit nicht unüblich, für eine bessere Bildung zu einer älteren Schwester Weingartens nach Spandau gegeben – bis sie eine den Eltern unliebsame Liebschaft einging und wieder nach Stendal zurückbeordert wurde.

Mit neunzehn Jahren heiratete sie den Justizrat und Regierungsdirektor Theodor Ursinus, einen Hausfreund der Familie, mit dem sie um 1792 herum nach Berlin zog. Sie wurde aufgrund ihres Witzes und klugen Geistes, aber auch wegen ihres bezaubernden Äußeren recht schnell zur einer gefragten Person der gehobenen Gesellschaft.

Der Justizrat war nun aber deutlich älter, durchaus schon kränklich, sein Gehör wollte nicht mehr so recht – und es war, wie Ursinus später einräumte, weniger die große Liebe als eine vertraute und recht zugewandte Freundschaft zwischen ihnen. Da nun der Justizrat auch nicht mehr sonderlich an der ehelichen Pflicht interessiert war, gestattete er, dass sich seine Frau einen Liebhaber nahm – einen holländischen Hauptmann namens Ragay.

Dieser, jung, gutaussehend und von gewinnender Art, trennte sich jedoch 1796 von Ursinus, und alle Bemühungen ihrerseits, seine Liebe zurück zu gewinnen, blieben erfolglos. 1797 starb Ragay – als Todesursache wurde Schwindsucht in die Papiere eingetragen. Die Ursinus lebte danach weitgehend unauffällig ihr Leben als Dame der besseren Gesellschaft in Spandau, bis 1800 ihr Gatte Theodor Ursinus völlig überraschend starb. Kurz zuvor hatte er noch recht ausschweifend seinen Geburtstag gefeiert, was ihm aber wohl nach Angaben seiner Ehefrau nicht so recht bekommen war. Sie hatte ihm ein Stärkungsmittel verabreicht, als das nicht anschlug noch ein Brechmittel, aber der Zustand verschlechterte sich rasch. Trotz der hervorragenden Ärzte, die zum Bett des hochgeachteten und wohlhabenden Justizrats gerufen wurden, starb er nach kurzer, schwerer Krankheit.

Böse Stimmen kamen auf, dass die Ursinus die Ärzte wohl ein wenig zu spät gerufen hätte und es schon ein erstaunlicher Zufall sein, dass sie erst kürzlich größere Mengen Arsen zur Bekämpfung einer angeblichen Rattenplage erworben habe.

1801 musste Ursinus einen weiteren Todesfall in ihrer Familie verkraften, ihre reiche Erbtante Christiane Witte starb, ebenfalls an einer kurzen und schweren Krankheit. Man munkelte, es hätte zeitgleich wieder eine schwere Rattenplage bei der Ursinus gegeben.

Das geerbte Vermögen von Ehemann und Tante sicherten der Geheimrätin Ursinus ein bequemes, wenn nicht sogar verschwenderisches Leben, und sie hätte so ihre Tage in Berlin leichthin genießen können, wenn nicht 1803 Benjamin Klein, ein Diener, erkrankt wäre. Der hinzugerufene Arzt verordnete ein abführendes Mittel, doch sein Zustand besserte sich nicht. Ursinus war sehr um den ihr nahestehenden Diener besorgt und reichte ihm eine stärkende Brühe, die aber nicht die gewünschte Wirkung hatte, nein, es ging Klein sogar noch schlechter. Als Ursinus ihm einige Zeit später einen Milchreis brachte, rührte er ihn nicht an – beobachte aber, wie die Geheimrätin diesen einfach wegwarf. Da ein Milchreis zur damaligen Zeit eine ausgesprochen feine und hochwertige Speise war, kam ihm das zumindest ungewöhnlich vor. Als Klein dann gebackene Pflaumen angeboten bekam, rührte er auch diese nicht an – sondern gab sie einer befreundeten Zofe, sie solle sie in der Apotheke bitte prüfen lassen. Dort fand man heraus, dass das Misstrauen des Dieners bei weitem nicht unbegründet war. Die Pflaumen enthielten eine stattliche Menge an Arsen.

,Im März 1803, so ist es im „Der neue Pitaval“ (einer umfangreichen Sammlung von Kriminalfällen, herausgegeben im Brockhaus) vermerkt, saß Ursinus mit ihren Freundinnen beisammen. Man spielte gerade eine Party Whist, als Polizeibeamte gemeldet wurden. Ursinus stand in aller Gelassenheit auf, entschuldigte das Missverständnis, ging zu dem Beamten, die im Vorzimmer warteten und kam nicht zurück. Da begriffen die Damen, dass sie verhaftet worden war – und niemand zweifelte, dass es dabei um Giftmord ging.

In den Verhören gestand Ursinus den Mordversuch an dem Diener, verriet aber nicht das Motiv. Vermutet wurde aber, dass Ursinus Heiratspläne schmiedete und der Diener ein unerwünschter Mitwisser war, den sie aus dem Weg räumen wollte.

Die weiteren von der Polizei geäußerten Verdächtigungen, die ihren Ehemann und ihre Tante, aber auch ihren Liebhaber Ragay betrafen, wies Ursinus weit von sich. Sie habe Ragay geliebt, von ganzem Herzen, und ihr Ehemann habe davon gewusst. Mehr als gewusst, er habe das Verhältnis unterstützt. Der Grund, so gab sie an, war, dass ihr deutlich älterer und kränklicher Ehemann durchaus verstand, wie sehr sie unter der Kinderlosigkeit der Ehe litt. Die Beziehung zu Ragay sollte sie trösten und ablenken. Als Ragay sich von ihr abwandte – weil sie, so sagte sie, aus Verbundenheit zu ihrem Ehemann kein körperliches Verhältnis mit ihm eingehen wollte –, brach es ihr das Herz. Aber niemals hätte sie daran gedacht, ihn zu töten. Sich selbst, ja, aber nicht ihn.

Nun ja, wandten die Beamten ein, aber es sei doch sehr offensichtlich, dass sie sich nach einem anderen Partner und Lebensgefährten sehnte, nach einem jungen Mann und einer Familie. Und weil Ursinus hier zwar viele Worte machte, aber wenig sagte und die Umstände des Todes ihres Mannes viele Fragen aufwarfen, entschloss man sich zur Obduktion der Leiche ihres Gatten.

Der Justizrat war außerordentlich gut mumifiziert, seine Hände in einer verkrampften Haltung erstarrt – beides deutliche Hinweise auf eine Arsenvergiftung. Der namhafte Chemiker Klaproth, den man um Hilfe bat, konnte aber nicht zweifelsfrei Arsen im Mageninhalt des Verstorbenen nachweisen. Die Marshsche Probe, jenen berühmten, bis heute etablierten Nachweis für Arsen und eine der ältesten toxikologischen Nachweismethoden, gab es noch nicht.

Doch Polizei und Staatsanwaltschaft ließen nicht locker – was war mit der Tante? Verdächtig war, dass sich Ursinus just um die Todeszeit bei der Tante in Charlottenburg aufgehalten hatte, auch wieder pflegend an ihrem Bett gestanden und nachweislich in dieser Zeit Arsen gekauft hatte. Ja, das habe sie, räumte die Geheimrätin ein, aber nur, weil sie aus Trauer über die schwere Krankheit der Lieblingstante und wegen des nahenden Verlusts wieder an Selbstmord gedacht habe.

Man glaubte Ursinus nicht – und exhumierte die Leiche der Tante ebenfalls. Die war wieder ausnehmend gut mumifiziert, mehr noch, es fanden sich in Magen und Darm typische Spuren und Schäden einer Arsenvergiftung. Der direkte toxikologische Nachweis misslang Klaproth aber auch hier.

Jetzt entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Koryphäen der Medizin. Auf der einen Seite die Leibärzte, welche die Totenscheine ausgestellt hatten, und auf der anderen die Mediziner und Chemiker, die die Leichen obduziert hatten. Die Ergebnisse der Obduktion stellten die Diagnosen der Totenscheine in Frage und damit auch die Reputation der Leibärzte. Letztlich war entscheidend, dass ein direkter Nachweis von Arsen in den exhumierten Leichen nicht gelang – und so wurde die Geheimrätin Ursinus vom Mord an ihrem Geliebten und am Ehemann freigesprochen. Für die den Fall der Erbtante Witte jedoch erhielt sie eine sogenannte Verdachtsstrafe, die eher gering ausfiel, doch der Mordversuch an ihrem Diener wog schwer.

Lebenslange Haft lautete das Urteil.

Dreißig Jahre verbüßte sie auf der Festung Glatz, dann wurde sie begnadigt, durfte aber die Stadt nicht verlassen. Dank ihres noch immer beträchtlichen Vermögens und ihrer – nun ja – interessanten Geschichte, nahm sie sehr schnell wieder eine wichtige Rolle in der gehobenen Gesellschaft ein und war sehr angesehen. Es galt als Höhepunkt, zu einer ihrer Gesellschaften eingeladen zu werden, und als sie starb, so sagte man, musste man das Grab über ihrem Sarg nicht zuschütten. Sie hatte so viele Freunde und Bewunderer, dass die Tradition der Handvoll Erde, die jeder Trauernde auf den Sarg warf, genügte, um ihn vollständig zu bedecken.